Kabarett von Maria Magdalena Luxemburg
Berlin/Neukölln – Bei uns im Mietshaus geht es luxuriös zu. Die Briefträger müssen sich die Mühe machen die Post an jede einzelne Haustüre zu tragen, um Briefe in die kleinen Schlitze zu pressen. Es ist Mittwoch, der 1. Juni 2005, 9 Uhr morgens. Ich bin seit heute Alg II – Empfängerin und bleibe deshalb länger im Bett. Am Abend zuvor habe ich drei Flaschen Bier geleert, um auch alle Klischees zu erfüllen. Ich höre, wie der Brief auf den Boden fällt und hadere mit mir: Soll ich aufstehen oder mich einfach noch einmal im Bett umdrehen? Die Neugier siegt. Ich stehe auf, gehe zur Tür und hebe den Brief auf.
Ich bin überrascht: Das Jobcenter Neukölln hat mir geschrieben. Ich bin doch noch gar nicht in der Arbeitslosigkeit angekommen und schon kümmert sich mein Jobcenter um mich. Das macht mich glücklich, und ich öffne schnell das Schreiben.
Ganz förmlich mit „Sehr geehrte Frau“ werde ich angesprochen. Das gefällt mir und dann schreibt mir ein Unbekannter, dass er mit mir über meine berufliche Situation sprechen will. Ich beginne zu strahlen. In welch schönem Land lebe ich? Dann lese ich, ich soll am 8. Juni um 9.45 Uhr ins Jobcenter kommen. Die Zeit ist mir sympathisch. Nicht zu früh, da kann ich länger schlafen. Ich soll unbedingt eine Musterbewerbung mitbringen. Kein Problem. Das mache ich gerne. Schließlich bin ich sehr stolz auf meinen lückenlosen Lebenslauf und alle meine Zeugnisse, die mir Kompetenz, Teamfähigkeit und Engagement bescheinigen. Am Ende des Briefes steht sogar „Mit freundlichen Grüßen Ihr / e Arbeitsgemeinschaft Jobcenter Neukölln“ Ich kratze mich am Kopf. Warum „Ihr / e“ – das verstehe ich nicht.
Von Martina Groh(-Schad), erarbeitet im Rahmen eines Kabaretts-Programms.
Ich wüsste schon gerne, wer mir diesen netten Brief geschrieben hat. Ich beschließe mich zu bedanken. Außerdem habe ich noch eine kleine Frage. Oben rechts steht auf dem Schreiben: Rückfragen richten Sie bitte an: 030 / 5555776111. Schnell greife ich zum Telefonhörer und wähle. Hm – es ist besetzt. Ich werde es später noch einmal versuchen. Ich werde es noch oft an diesem Tag versuchen. Doch die Nummer ist immer besetzt.
Auch am nächsten Morgen verspüre ich den Wunsch, mich für die netten Worte zu bedanken. Ich rufe erneut an. Monotones piepen in der Leitung. Ich kratze mich am Kopf. Weitere zwei Stunden verbringe ich damit, die angegebene Nummer zu erreichen. Aber es bleibt besetzt. Langsam beschleicht mich der Gedanke, dass am anderen Ende der Leitung jemand einfach den Telefonhörer nicht aufgelegt hat. Sicherlich ein Versehen. Aber ich will mich unbedingt für das Engagement des Jobcenters Neukölln bedanken. Daher rufe ich die zentrale Nummer des Arbeitsamtes Berlin / Brandenburg an. Dort höre ich, dass derzeit alle Leitungen besetzt sind. Ich warte.
Ich warte exakt 27 Minuten und hoffe dabei, dass das eine kostenfreie Nummer ist. Irgendwann meldet sich eine Dame, die wohl nicht ihren besten Tag hat. Ich bringe mein Anliegen vor. Sie unterbricht mich. Ich unterbreche Sie und bitte darum, mich aussprechen zu lassen. Sie meint dann, dass ihr mein Anliegen egal sei, da sie nur dafür zuständig ist, mir die zentrale Nummer des Jobcenters in Neukölln zu sagen. Sie diktiert: 0180 / 100 25 140 6666. Ich gebe noch nicht auf. Ich erzähle ihr, dass ich 27 Minuten in der Leitung hing. Sie sagt böse, dafür könne sie nichts. Ich sage, ich weiß und frage: Wie viele Annahmeplätze haben sie? Mürrisch meint sie: 47 Plätze. Ich sage, das ist nicht ausreichend. Sie fällt mir wieder ins Wort und fragt mich, ob ich psychologische Hilfe benötige. Ich verneine und kratze mich erstaunt am Kopf. Ich will doch nur jemanden vom Jobcenter Neukölln sprechen. Sie legt genervt auf, und ich wähle die 0180er Nummer. Eine nette Stimme sagt mir, dass derzeit alle Plätze belegt seien. Ich solle zu einem späteren Zeitpunkt anrufen. Dieser Spruch kommt mir bekannt vor. Kann es sein, dass im Jobcenter Neukölln alle Hörer neben das Telefon gelegt wurden? Vielleicht ist dort etwas passiert. Ein Alg II – Empfänger hat die Mitarbeiter des Jobcenters Neukölln gefangen genommen und droht jetzt das ganze Gebäude in die Luft zu sprengen. Ich versuche es noch ein paar Mal unter der 0180er Nummer und hoffe, dass das wenigstens kostenfrei ist. Aber ich bin auch beunruhigt. Ich muss etwas tun.
Deshalb rufe ich in der Pressestelle des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit an. Um die nette Frau am Telefon nicht zu beunruhigen, verheimliche ich ihr meine Befürchtungen zwecks Geiselnahme im Jobcenter Neukölln. Ich erzähle ihr von den vielen Artikeln, die in den vergangenen Tagen über die Situation vor Ort geschrieben wurden. Ich schildere ihr, dass ich in dem Jobcenter war und das Grauen erlebt habe, das dort herrscht. Und dann frage ich sie: Wird etwas dagegen unternommen?
Das kann sie mir nicht sagen. Nein – im ganzen Ministerium gibt es niemanden der dazu etwas sagen könnte. Ich kratze mich wieder am Kopf und frage: Wer kann denn dann etwas sagen? Ihr Tipp: Rufen Sie in der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg an. Sie gibt mir eine Nummer, und ich bedanke mich.
Habe ich schon erwähnt, dass ich aus Franken stamme? Wie gerne rufe ich in Nürnberg an. Wie schön ist es eine fränkische Stimme am Telefon zu haben. Ich bringe mein Anliegen vor. Die Dame ist ebenfalls sehr nett. Aber sie meint, sie könne mir nichts sagen. Berlin sei ja von Nürnberg ziemlich weit entfernt. Überblick über die Maßnahmen hätte nur die Region. Rufen Sie doch in der Regionaldirektion an. Die müssen das wissen. Ganz sicher. Das werde ich tun. Sofort.
In der Regionaldirektion geht lange Zeit niemand ans Telefon. Nach einer halben Stunde bekomme ich erneut eine nette Frau zu sprechen. Mein Ansprechpartner für dieses Thema ist nicht da. Es gibt auch nur eine einzige Person im Haus, die sich damit beschäftigt. Ich kratze mich am Kopf. Irgendetwas stimmt mit diesem System nicht. Das ist mir klar. Sie rät mir dann: Rufen Sie in der Pressestelle der Arbeitsgemeinschaft Jobcenter Neukölln an. Dort kann man Ihnen sicherlich Auskunft geben. Ich danke für den Rat und bin gespannt, was ich erfahren werde, wenn ich, ganz unten angekommen, meine Fragen stelle. Ich wähle die Nummer und höre eine Stimme vom Band: Der von Ihnen gewählte Teilnehmer ist leider besetzt. Bitte versuchen sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.
Ich kratze mich am Kopf. Das kann nicht sein. Kann mir irgendjemand die Nummer von Herrn Hartz, Schröder oder Clement geben?
8. Juni – endlich ist der Tag der Tage!
Endlich ist der Tag der Tage. Heute darf ich im Jobcenter Neukölln vorsprechen. Heute werde ich Antworten auf meine zahlreichen Fragen bekommen. Und ich habe viele! Ich will pünktlich sein. Deshalb erreiche ich schon 15 Minuten vor dem vereinbarten Termin das Jobcenter Neukölln. Am Haupteingang ist die Tür verschlossen. Schon wieder überfällt mich die neue merkwürdige Angewohnheit, mich am Kopf zu kratzen. Zum Glück kommt jemand und weist mich auf die Menschentraube am Seiteneingang hin. Ich reihe mich ein. Minute für Minute komme ich Herrn R. und seinem uniformierten Beschützer näher. Herr R. wiederholt monoton: „Haben Sie eine Einladung? Heute nur terminierte Besucher.“ Mehrfach höre ich Menschen antworten: „Ich habe meine Einladung zu Hause vergessen. Aber ich habe einen Termin.“ Dann blickt Herr R. in seine Liste und sucht nach den angegebenen Namen. Meist schüttelt er den Kopf und sagt: Tut mir leid, ihr Name ist hier nicht verzeichnet. In diesen Momenten sieht man, wie sein uniformierter Wachmann die Schultern nach unten zieht und sich seine Muskeln deutlich abzeichnen.
Herr R. versucht immer ruhig und gelassen zu wirken. Muskeln hat er selbst, aber sie bleiben entspannt. Die Reaktionen der abgewiesenen Menschen sind gemischt. Wut, Traurigkeit, Hilflosigkeit und doch wieder Aggression spiegelt sich in ihren Gesichtern. Ich bewundere Herrn R. für seine Ruhe. Manchen der Abgewiesenen schenkt er sogar ein bedauerndes Lächeln. Ganz langsam komme ich Herrn R. näher. Zur Sicherheit greife ich in meine Mappe und bin erleichtert. Ich habe meine Einladung dabei. Vor mir wartet nur noch ein Herr mit ergrauten Haaren und traurigem Blick. Er hat seine Einladung vergessen. Herr R. kann den Namen auf seiner Liste nicht finden. Er wiederholt monoton: Heute nur für terminierte Besucher. Kommen Sie ein anderes Mal wieder. Der ergraute Mann bleibt einfach stehen und starrt vor sich hin. Er murmelt: Ich muss dort hinein. Ich muss da heute unbedingt hinein. Aber Herr R. muss standhaft bleiben und sagt: Es tut mir leid, heute nur terminierte Besucher. Sein Blick wirkt bedauernd.
Ich blicke nervös auf die Uhr, denn ich werde zu spät kommen. Wie hätte ich auch ahnen können, dass ich vor meinem Jobcenter Neukölln Schlange stehen muss? Hätte ich das ahnen müssen? Wie ich erwähnte, ich komme aus Franken. Ich komme vom Land. Und irgendwie ist da alles anders. Dass man vor einem Jobcenter Schlange stehen muss, das habe ich noch nie gehört.
Endlich bin ich an der Reihe. Ich zeige Herrn R. meine Einladung, und er lächelt mich an. Ich lächle zurück und bedauere ihn für seinen anstrengenden Job. Der uniformierte Wachmann gibt sofort den Weg frei und aufgrund der fortgeschrittenen Zeit haste ich zum Treppenhaus. Zwei Stockwerke trennen mich von meinem Beratungsgespräch. Als ich den zweiten Stock erreiche, überfällt mich Panik. Auf dem Zettel steht eine Zimmernummer, die ich jetzt einfach nicht finden kann. Zum ersten Mal fluche ich auf das Jobcenter Neukölln, wo Organisation eindeutig ein Fremdwort ist. Nichts ist vernünftig ausgeschildert. Bei früheren Besuchen hier durfte ich feststellen, dass die Berater laut schreiend durch die Gänge eilen müssen, um ihren Klienten zu finden. Ich glaube, damals überfiel mich zum ersten Mal die seltsame Angewohnheit, mich am Kopf zu kratzen.
Wie schon gesagt, ich komme vom Land. Auch in meiner kleinen Heimatstadt gibt es ein Jobcenter. Dort nennen es die Leute allerdings noch immer Arbeitsamt. Dort gibt es Nummern, die man ziehen muss. In regelmäßigen Abständen ertönen Glocken, die anzeigen, dass ein Beratungsplatz frei geworden und der nächste Wartende an der Reihe ist. Bei meinem letzten Besuch in diesem Arbeitsamt kam mir das gar nicht seltsam vor. Ich fand es sehr praktisch.
Hier im Jobcenter Neukölln scheint man das anders zu sehen. Vielleicht ist man bemüht, dafür zu sorgen, dass die Angestellten des Jobcenters Neukölln ausreichend Bewegung haben. So ein Schreibtisch-Job ist ja bekanntlich nicht gut für den Rücken, und er führt zu Übergewicht. Das wiederum kann ja zu erhöhten Kosten für die Krankenkassen führen und die Regierung von Herrn Schröder war ja sehr bemüht, diese Kosten zu senken. Gleichzeitig sorgte diese Regierung auch dafür gesorgt, dass die Einnahmen der Kassen steigen und führte die Praxisgebühr ein. In diesem Moment fällt mir auf, dass sich das hier im Jobcenter Neukölln widerspricht! Nicht nur die Angestellten müssen sich ja viel bewegen, um ihre Klienten zu finden. Neben ihnen irren ja auch immer die uniformierten Wachmänner durch die Gänge und außerdem geistern wir Klienten durch das Haus, weil wir unsere Ansprechpartner nicht finden. Alle sind folglich in Bewegung und bleiben gesund. Und wenn wir nicht zum Arzt müssen, dann zahlen wir auch keine Praxisgebühr. Vielleicht denke ich falsch, weil ich eine Frau bin und mir logisches Denken manchmal fern ist. Aber bedeutet das nicht in der Konsequenz, dass die Kassen weniger Einnahmen haben? Das sind so die Gedanken, die ich mir mache, als ich verwirrt durch das Jobcenter Neukölln irre, um mein Beratungsgespräch wahr zu nehmen.
Ich bin fünf Minuten zu spät dran, als ich endlich den auf meinen Zettel angegebenen Raum finde. Ich klopfe an die Tür und trete in das Zimmer. Eine Frau blickt mich streng an. Ich erkläre, dass es mir leid tue, dass ich zu spät sei. Aber…. Die Frau unterbricht mich und meint: Jetzt sind Sie ja da, setzen Sie sich. Ich falle erleichtert auf den Stuhl. Sie blickt auf meine Einladung und gibt meine Kundennummer im Jobcenter Neukölln in den Computer ein. Dann runzelt sie die Stirn, gibt mir die Einladung zurück und sagt: Es tut mir leid, ich darf Sie nicht beraten. Ich starre Sie an. Irgendwie habe ich Sie nicht richtig verstanden. Ich frage: Wie bitte? Was meinen Sie? Sie wiederholt: Ich darf Sie nicht beraten. Ich kratze mich am Kopf und bin verwirrt. Ich stammle: Aber, aber – Sie haben mich doch eingeladen. Das steht doch hier auf dem Zettel. Ich habe Fragen an Sie! Sie schüttelt den Kopf und sagt: Ich habe Sie nicht eingeladen. Ihr Antrag ist noch nicht bewilligt, und deshalb darf ich Sie nicht beraten. Ich blicke Sie an und schweige. So langsam beschleicht mich das Gefühl, in einem Narrenhaus zu sein. Ich frage mich: Bin ich verrückt oder sind es die Menschen, die hier arbeiten müssen?
Ich atme tief durch, blicke ihr starr in die Augen und frage: Wer hat mich zu diesem Termin eingeladen? Sie meint dann ganz ruhig: Das ist eine von unserem Computer-System maschinell erstellte Einladung. Das passiert automatisch, wenn Sie sich bei uns melden. In meinem Kopf hallt es: Mit freundlichen Grüßen Ihr / e Jobcenter Neukölln. Ihr / e – jetzt verstehe ich diesen Mist.
Ich bin ein sehr ruhiger und gelassener Mensch. Aber jetzt hat es das Jobcenter Neukölln geschafft. Meine Stimme wird laut und ich sage: Dann sagen Sie Ihrem Computer-System einen herzlichen Dank von mir. Sagen Sie ihm, dass ich gerade versuche, mich selbstständig zu machen. Sagen Sie ihm, dass ich viel zu tun habe und weder Lust noch Zeit habe, durch die Gänge des Jobcenters Neukölln zu irren. Ich habe auch keine Zeit, stundenlang am Telefon zu hängen und mir von ihrem Computer-System samt Telefonanlage sagen zu lassen, dass derzeit alle Plätze belegt sind. Die Dame blickt mich an. Sie bleibt ruhig und entgegnet: Sie haben recht. Das mit der Telefonanlage ist in der Tat ein Problem.
Ihre Ruhe bringt mir meine Ruhe zurück. Ich entschuldige mich für meinen Ausbruch und frage Sie, ob sie mich denn nicht ausnahmsweise trotzdem beraten könnte, da ich rund um meine Existenzgründung Fragen an Sie hätte. Sie schüttelt bedauernd den Kopf und meint: Da kann ich Ihnen wenig Hoffnung machen. Ehrlich gesagt fürchte ich, dass Sie in den nächsten Monaten keinen Beratungstermin bei uns bekommen werden. Wir können all die Anträge nicht mehr zeitnah bearbeiten. Ich schüttle ratlos den Kopf. Sie zuckt mit den Schultern: Bei uns werden Arbeitsplätze abgebaut.
Dieser ganze Wahnsinn macht mich traurig, aber auch wütend. Ich frage: Und wie sieht es mit dem Geld aus? Ich muss doch von irgendetwas leben. Da sieht sie mich traurig an und meint: Auch das kann länger dauern. Ich blicke sie fassungslos an und sage: Verstehen Sie mich eigentlich nicht? Ich will mich darum kümmern, dass ich mich selbst finanzieren kann. Sie vermitteln mir gerade, dass mich mein Vermieter demnächst vor die Tür setzen wird, weil ich meine Miete nicht mehr bezahlen kann. Sie zuckt mit den Schultern: Ich kann Ihnen leider nicht helfen.
Ich bin fassungslos. Mühsam erhebe ich mich und gehe zur Tür. Dann fällt mir eine letzte Frage ein: Wird mich ihre Computer-Anlage in nächster Zeit noch öfters einladen? Sie sagt: Ja – das kann sein. Aber so lange ihr Antrag nicht bewilligt ist, wird sie niemand beraten. Sie müssen allerdings unseren Einladungen nachkommen, sonst verlieren sie teilweise ihren Anspruch auf Zahlung des Arbeitslosengeldes II. Ich schüttle den Kopf, in meinem Kopf hallt es: Fördern und Fordern. Fördern und Fordern. Fördern und Fordern. Waren das nicht die Worte von Peter Hartz? Ich verlasse den Raum.
Draußen setze ich mich auf einen Stuhl. Mir gehen viele Gedanken durch den Kopf. Ich beobachte die Menschen um mich. Wieder beschleicht mich das Gefühl, in einem Narrenhaus zu sein. Ich sehe Menschen, von Depressionen und Alkohol gezeichnet. Ich sehe ihre hoffnungslosen Augen, die keinerlei Perspektiven sehen. Fördern und Fordern. Fördern und Fordern. Immer wieder hallt es in mir. In diesem Moment hasse ich Peter Hartz und wünsche ihm, dass er irgendwann in seinem Leben im Jobcenter Neukölln einen Alg II – Antrag stellen muss. Aber dieser Wunsch wird wohl nie in Erfüllung gehen.
Ich bleibe einfach auf meinem Stuhl sitzen und blicke vor mich hin. Das Lachen ist mir in diesem Narrenhaus vergangen. Ich mag nicht mehr. Im Moment mag ich mich auch nicht selbstständig machen. Im Moment sehne ich mich nach einer einsamen Insel, die ich als wirkliche Alternative für mein Leben begreife. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Statt ein Unternehmen zu gründen, muss ich jetzt erst einmal sehen, wie ich die nächsten Monate überstehe. Jetzt weiß ich, wie es den Menschen geht, die bei Lidl vor der Tür stehen und um ein paar Cent betteln. Ich überlege, ob ich das jetzt auch einfach mache. Aber dann denke ich mir, es wäre vielleicht sinnvoller, sich vor das Kaufhaus des Westens zu stellen. Und dann kommt mir der Gedanke, noch besser wäre es, ich stelle mich vor das Bundeskanzleramt. Auf ein großes Schild schreibe ich: Könnte ich bitte Herrn Hartz, Schröder oder Clement sprechen? Ich beschließe, mich demnächst an den Eisenzaun vor dem Bundeskanzleramt zu ketten. Ich werde Flugblätter schreiben und verteilen. Ich werde Lieder singen und um Euros betteln, damit ich meine Miete bezahlen kann. Vielleicht kann ich so laut singen, dass Herr Schröder bei der Arbeit gestört wird und aus dem Fenster blickt. Ich werde ihm dann winken und zuschreien: Könnte ich Sie mal sprechen? Mir sind da ein paar merkwürdige Dinge in diesem Land aufgefallen. Seitdem kratze ich mich am Kopf. Ich werde schreien: Können Sie mal für mich ihren Herrn Hartz anrufen? Ich würde gerne gefördert werden.
Und lieber Leser – wenn dieser ganze Wahnsinn in diesem Land so weitergeht, dann werden sie tatsächlich bald von einer Verrückten in der Zeitung lesen. Die Verrückte wird täglich vor dem Bundeskanzleramt stehen und singen – nein – brüllen. Tagtäglich wird sie von der Polizei abgeführt und in eine Zelle gesperrt. Aber irgendwo werde ich ja künftig auch schlafen müssen. Denn ich fürchte, Herr Hartz wird zwar mich fordern, fördern wird er mich nicht.
Die Inszenierung: Tränen lügen nicht
Die Tage vergehen und nichts passiert. Ich genieße meine Arbeitslosigkeit, versüße mir die Abende mit Bier, da ich am nächsten Morgen ja ohnehin ausschlafen kann. Diese Arbeitslosigkeit hat irgendwie dazu geführt, dass mein Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinander gekommen ist. Weil ich morgens zu lange schlafe, tagsüber kein Geld habe, um etwas zu unternehmen und nachts über Probleme grüble, verändern sich die Dinge in meinem Leben. Inzwischen nervt es mich, wenn einer meiner Freunde am Morgen anruft. Ich bin dann müde und will schlafen. Vor neun Uhr stehe ich kaum mehr auf. Meistens ist es die auf den Boden fallende Post, die mich zum Aufstehen bewegt. Ich warte ja auch darauf, dass mich die Computeranlage des Jobcenters Neukölln erneut einladen wird, um mit mir über meine berufliche Situation zu sprechen.
Inzwischen ist es vier Wochen her, dass ich mich das erste Mal im Jobcenter Neukölln gemeldet habe. Seither versuche ich erfolglos meinen Antrag abzugeben. Schaffe ich es, bis zu einem Sachbearbeiter durchzukommen, erfindet er jedes Mal etwas Neues, dass ich angeblich nachweisen soll. Ich werde immer wieder weggeschickt, um Unterlagen zu organisieren, die meine Existenz rechtfertigen. Das Jobcenter Neukölln ist also wieder bemüht, Bewegung in mein Leben zu bringen. Das ist doch ganz logisch: Würden sie mir einfach auf einen Schlag berichten, welche Unterlagen sie benötigen, müsste ich nur einmal zu dem Jobcenter kommen. So komme ich regelmäßig und bewege mich dabei, was mich gesund hält.
In letzter Zeit schaffe ich es aber kaum mehr bis zu einem Sachbearbeiter durchzukommen. Neulich hatte das Jobcenter Neukölln einfach mal eine Woche geschlossen. Jeden Tag sammelte sich eine Traube verzweifelter und wütender Menschen vor den verschlossenen Türen, die ihre Wut an den Sicherheitsbeamten ausließen. Die Begründung für die Schließung des Jobcenters liegt nahe: Es findet eine Umorganisation statt. Ich bin sehr gespannt, was dort passieren soll. Die Überbrückungszeit verläuft nämlich erstaunlicherweise schon wieder sehr unorganisiert.
Im Moment bewegen sich die Menschen zwischen zwei verschiedenen Gebäuden hin und her. Da ist es wieder – die Bewegung! Es gibt den alten Bau, in dem man nur noch Eintritt findet, wenn man eine Eintrittskarte hat. Also entweder eine Einladung der Computeranlage oder man war vorher erfolgreich im neu bezogenen Gebäude. In dem alten Bau sitzen die Menschen, die vermitteln sollen. Sie sollen Hilfe bieten. In dem neuen Bau sitzen die Menschen, die – es tut mir leid, ich habe nicht begriffen, welche Aufgaben diese Menschen haben.
Es läuft jetzt so ab. Es gibt einen Eingang mit einem Empfangsbereich. Dort reiht man sich in eine Schlange ein, um irgendwann sein Anliegen vorzubringen. In meinem Fall ist es immer der Wunsch: Ich will meinen Alg-II-Antrag abgeben. Mein Name wird dann in die Computeranlage eingegeben, und ich begebe mich in den Wartesaal drei. Dort sitzen etwa 15 Sachbearbeiter nebeneinander an Computern. Vor Ihnen steht ein Stuhl, auf dem wir Kunden Platz nehmen dürften. Theoretisch!
Stühle sind in diesen Wartesälen Mangelware. Die meisten sitzen daher wie Vieh auf dem Boden nebeneinander. Ich setze mich in die Mitte des Raumes und beobachte. Mir macht es nichts aus, auf dem Boden zu sitzen. Das tue ich ohnehin am liebsten, aber den anderen scheint es nicht so zu gehen. Immer wieder beginnen Menschen zu schreien, beschimpfen sich gegenseitig und die Sachbearbeiter. Dann kommt immer der Einsatz für die Wachmänner, und es ist zumindest für Unterhaltung gesorgt. Ich bin heute guter Dinge und mir kommt vieles in den Sinn. Zum Beispiel fällt mir auf, dass es in diesem Jobcenter ganz viele Möglichkeiten gäbe, um Geld zu verdienen. Da mir so langweilig ist, spreche ich wildfremde Menschen an und erzähle ihnen von meinen Ideen. Ich dachte da so an Weiterbildungsmöglichkeiten, die während der stundenlangen Wartezeit durchgeführt werden könnten. Es wäre aber auch einfach möglich, mit einem Bauchladen bestückt, die Menschen mit essen und trinken zu versorgen. Auch Kleinvieh macht Mist, heißt es. Die anderen Menschen blicken mich erstaunt an. Aber es scheint ihnen gut zu tun, dass ich über meine Ideen lachen kann.
Die Sachbearbeiter sind übrigens zu einem Teil wieder in Bewegung. Nicht alle müssen aufstehen, um den Namen des Menschen durch den Raum zu brüllen, der auf den Stuhl vor ihnen Platz nehmen darf. Aber manche schon. Ich kratze mich am Kopf. Nach welchen Kriterien entscheidet das Jobcenter Neukölln, wer sich bewegen muss und wer nicht? Mein Name wird an diesem Tag nicht aufgerufen. Ehrlich gesagt – es ist mir auch lieber, dass hier nicht jeder weiß, wie ich heiße. Ich bin eine attraktive Frau und lüstern blickende Männer gibt es hier zuhauf. Schon wieder kratze ich mich am Kopf. Es scheint dem Jobcenter Neukölln nicht klar zu sein, dass es mir große Probleme mit Männern, die ich nicht will, bereiten könnte.
Nach vier Stunden Wartezeit im Jobcenter Neukölln auf dem Fußboden sitzend, bekomme ich gesagt, dass meine Daten nun aufgenommen werden. Nein, nein. Ich darf meinen Antrag nicht abgeben. Das Jobcenter Neukölln wird mich anrufen. Ich sage: Nein. Darauf lasse ich mich nicht ein. Ich habe jetzt vier Stunden gewartet. Ich gebe meinen Antrag jetzt ab. Die Frau vor mir schüttelt den Kopf. Sie ist freundlich. Ich kann ihren Antrag nicht annehmen. Vertrauen sie mir. Sie werden bis spätestens Freitag angerufen. Ich hole tief Luft, stehe auf und gehe hinaus. Hätte ich ihr erzählen sollen, dass mein Vertrauen in die Telefonanlage des Jobcenter Neukölln tief gestört ist?
Ich warte bis Freitagmittag. Natürlich ruft mich niemand an. In meinem Kühlschrank herrscht Leere und so wird es bleiben. Am Nachmittag beschließe ich dann einmal wieder unter der 0180-Nummer anzurufen. Inzwischen weiß ich, es ist nicht kostenlos. Es dauert diesmal nur eine Minuten, bis ich jemanden persönlich sprechen darf. Der Mann ist sehr freundlich. Er hört sich mein Anliegen an und betont: Ich schreibe dem Jobcenter Neukölln eine E-Mail, damit die wissen, dass Sie auf einen Anruf warten. Ich hänge den Hörer ein und versuche mich darauf zu konzentrieren, dass ich mich selbstständig machen will. Ich schaffe es nicht. Meine Gedanken wandern immer wieder zu meinem leeren Kühlschrank. Manchmal wandern sie auch auf meine Insel.
Irgendwann ist Dienstag. Auf den Anruf wegen eines Termins warte ich noch immer vergeblich. An diesem Tag kommt mir so gegen Mittag wieder der Gedanke: Ich müsste dort mal anrufen und nachfragen. Aber wie ich ja schon weiß, hat das keinen Sinn, da es mit der Telefonanlage in dem Jobcenter Probleme gibt. Da ich ohnehin nichts Besseres zu tun habe, beschließe ich, mal in dem Jobcenter vorbei zu schauen und am Empfang vorzusprechen.
Langsam schiebt sich die Schlange vor dem Schalter voran. Endlich bin ich an der Reihe und bringe meine Frage vor: Wann wird mich jemand vom Jobcenter Neukölln anrufen, damit ich einen Termin bekommen kann, um meinen Alg-II Antrag abzugeben? Mein Gegenüber blickt mich regungslos an und sagt dann monoton: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie können den Antrag heute abgeben. Gehen Sie in den Wartesaal 3. Ich sage: Da habe ich letzte Woche vier Stunden auf dem Boden gesessen und bin dann mit der Zusicherung weggeschickt worden, ich bekomme zur Abgabe einen Termin. Heute habe ich keine vier Stunden Zeit. Er meint dann: Kein Problem, das schreibe ich in unsere Computeranlage und dann kommen sie schneller dran. Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass er nicht recht hat. Aber ich will ihm glauben und begebe mich in den Wartesaal 3. Im schwarzen Kleid und eleganten Damenschuhen begebe ich mich wieder auf meinen Sitzplatz auf dem Boden im Wartesaal 3. Ich wähle immer den Platz in der Mitte des Raumes. Dann ist die Chance am größten, dass man es auch hört, wenn die Sachbearbeiter den eigenen Namen schreien. Meiner wurde dort noch nie ausgerufen.
Heute geht es mir nicht so gut. Ich habe keine Lust zu lachen und die anderen vom Jobcenter Neukölln kennen zu lernen. Ich habe heute ganz merkwürdige Gedanken. Vielleicht liegt es daran, dass vorhin jemand schreiend den Raum verlassen hat: Wenn ich das nächste Mal wieder komme, dann laufe ich Amok. Es klingt absurd, aber ich verstehe den Mann. Ich denke solche Dinge, wie: Ich würde das Jobcenter Neukölln am liebsten anzünden. Hat dieses Gebäude Glück, dass ich eine Frau bin. Mein Aggressionspotenzial ist geringer als das von Männern. Dann kommen mir merkwürdige Gedanken: Moment – ich bin eine Frau. Ich bin emotional. Ich bin traurig. Mir geht es nicht gut. Ich will hier nicht sein. Verzweiflung macht sich in mir breit, und ich bemerke, dass Tränen in meinen Augen stehen. Und dann kommt der merkwürdigste Gedanke: Lass die Tränen zu.
Ich sitze also im schwarzen Kleid mit eleganten Schuhen wie Vieh am Boden im Jobcenter Neukölln. Erst bemerkt mich nur ein Mann, der mir seinen Stuhl anbietet. Ich lehne dankend ab. Dann ruft mich eine Sachbearbeiterin zu sich. Sie sagt: Beruhigen sie sich. Was wollen sie denn hier? Ich sage: Ich will meinen Alg-II Antrag abgeben. Ich versuche das seit vier Wochen. Aber man lässt mich nicht. Ich habe kein Geld mehr. Wieder kullern die Tränen. Sie meint dann: Geben Sie mir ihren Personalausweis. Innerlich lache ich. Ich habe es geschafft. Sie geht dann weg und kommt mit einem Zettel wieder. Sie meint: Gehen sie jetzt in das alte Gebäude. Dort können sie ihren Antrag abgeben. Ich bedanke mich und beginne draußen schallend zu lachen. Ja – das Jobcenter Neukölln macht mich manisch-depressiv.
Ich bin in Bewegung und erreiche den alten Bau. Schon von weitem wedle ich, mit meinem Zettel auf dem „Notfall“ steht, dem Wachmann zu. Ich strahle und schreie ihn an: Ich habe eine Eintrittskarte. Andere Menschen, denen er den Weg versperrt, blicken mich bewundernd an. Er macht mir den Weg frei.
Es ist der 29. Juni 2005. Heute habe ich es geschafft, meinen Antrag zu stellen. Die Bearbeitung wird nur etwa vier Wochen dauern. Einen Beratungstermin bekomme ich vorher nicht, höchstens eine maschinell erstellte Einladung des Jobcenters Neukölln. Aber ehrlich gesagt, ich will mich bei meiner Selbstständigkeit gar nicht vom Jobcenter Neukölln beraten lassen. Es ist nur ein Gefühl. Warum eigentlich?