Mit der Geschichte „Vom Stein der frommen Wünsche“ hat Martina Groh-Schad beim Short Story Wettbewerb der Wunsiedler Buchmesse den zweiten Preis gewonnen. Die Geschichte wurde zusammen mit anderen Kurzgeschichten in einem vierbändigen Schuber des Verlagshauses Späthling veröffentlicht. Mit Genehmigung des Inhabers dürfen wir die Geschichte auf unsere Seite abdrucken. Das Foto zur Geschichte hat Uwe Krug aus Selb geschossen. Viel Spaß beim Lesen, beim Schmökern und wenn ihr Schokolade dazu esst: Dann schmöckert gut.
Vom Stein der guten Wünsche
Vermutlich werden Sie mir diese Geschichte nicht glauben. Aber ich kann Ihnen garantieren, es hat sich neulich so zugetragen und Sie werden schon bald an mich denken, wenn Ihnen plötzlich ein ganz frischer Wind um die Nase weht, der den Aufbruch verspricht. In dieser Geschichte geht es um einen jungen Mann, einen Stein im Fichtelgebirge und den lieben Gott.
Unser junger Mann war ein Nordostoberfranke, wie er im Buche steht. Er war voller Herzenswärme, die er stets mürrisch zu verbergen suchte. Er war voller Selbstkritik, da seine Ideale immer sehr hoch hingen. Zu hoch, aber Kritik diesbezüglich erschloss sich ihm nicht. Der Ausspruch: „Geht nicht, gibt`s nicht“, traf sein Lebensmotto gut. Er war voller Misstrauen allem Neuen gegenüber, denn schließlich konnte man ja täglich in der Zeitung lesen, wie schlecht die Welt war. Zumindest außerhalb des Fichtelgebirges. Er war zynisch auf eine liebevolle Art und Weise und sagte meist das Gegenteil von dem, was er meinte. Nur das geschulte Ohr war in der Lage, den Tonfall richtig einzuordnen. Kurz: Er war kein leichter Zeitgenosse, was weithin bekannt war. Im Fichtelgebirge war er mit seiner Wesensart in guter Gesellschaft. Darüber hinaus kam es leicht zu Verständigungsproblemen.
Mit seiner Heimat verhielt es sich wie mit dem Tonfall und dem Herzen. Insgeheim liebte er jeden Stein der Region über alles. Doch das behielt er wie alle seine Schlags gerne für sich und motzte und meckerte lieber herum. Für den Zuhörer von außen konnte das klingen, als ob er kein gutes Haar am Fichtelgebirge und seinen Bewohnern lassen würde. Für seinesgleichen war klar, dass seine Kritik nur Ausdruck der hohen Ansprüche war, die er an sich und seine Umwelt stellte. Wenn er beispielsweise den Stillstand in der Region beklagte, dann enthielt diese Kritik auch stets das unausgesprochene Lob der Stabilität vor Ort. Was er sagte, war stets gut gemeint. Es klang nur anders und hier liegt ein grundlegendes Problem verankert. So über Dinge zu sprechen, die man liebt und die man gut findet, fetzt nicht. Es bringt nichts, es schürt keinen guten Geist, es verbessert die Welt nicht. So einfach ist das.
Der Stein, von dem ich euch berichten möchte, ist nicht irgendein Stein. Er ist meterhoch, fast schon ein Felsbrocken, den man keinesfalls mit der Hand bewegen könnte. Ich kann euch verraten, dass dieser Stein vom Himmel gefallen ist, um dem Herrgott persönlich einen Platz zum Ruhen zu verschaffen. Mir ist allerdings klar, dass ihr diese himmlische Eigenschaft des Steins nicht glaubt. Ich möchte keine Zeit darauf verschwenden, euch vom Gegenteil zu überzeugen. Mir wäre nur wichtig, dass ihr für möglich haltet, dass es sich um einen besonderen Stein handelt. Wenn ihr wollt, dann lasst diesen Stein magisch sein. Denn aus eigener Erfahrung kann ich euch sicher sagen: Er sendet positive Energien aus. Angeblich steht der Stein auf geheimnisvollen Linien, wenn man auf Landkarten Striche zeichnet. Verbindet man ihn mit anderen markanten Punkten im Fichtelgebirge durchkreuzen die Striche ihrerseits wieder mystische Orte. Dieses Phänomen lässt so manchen von außerhalb ratlos zurück. Für die Bewohner des Fichtelgebirges verhält es sich jedoch anders: Da es vor Ort vor mystischen Stätten, Geistern, Bewohnern aus dem Sonnen- und Schattenreich, Elfen, Feen, Riesen und Zwergen nur so wimmelt, wäre es eher merkwürdig, wenn gezogene Linien auf Landkarten keine außergewöhnlichen Punkte im Fichtelgebirge durchkreuzen.
Der Stein hat zwei Kuhlen, in denen man sitzen kann, verweilen, nachdenken und die schöne Landschaft rund herum betrachten. Es ist ein ruhiger Ort in der Nähe der Ortschaft Hendelhammer, der bis heute abseits gelegen geblieben ist. Immer wieder gab es Überlegungen den Stein zu versetzen, um eine Straße zu bauen. Doch irgendwie traute sich keiner an dem Standort zu rütteln. Der Stein muss schon unendlich lange dort liegen, wie selbst uralte Zeichnungen von dem Landstrich bezeugen. Außerdem gibt es Überlieferungen, die schon von der Anwesenheit des Steines zeugen. Zahlreiche Geschichten von Hexen, Kulten, Kämpfen und Toten werden mit diesem Stein verbunden, aber eben auch der liebe Gott, der schon höchstpersönlich diesen Stein besucht haben soll, um dort zu verweilen und neue Kraft zu tanken.
Dem lieben Gott zu Ehren haftet diesem Stein bis heute der Ruf an, er könne fromme Wünsche erfüllen. Ja, Sie haben richtig gelesen. Es geht um fromme Wünsche. Auch hier zeigt sich wieder die Doppeldeutigkeit, die oft in der Region vorherrscht. Denn ein frommer Wunsch kann zweierlei sein und ist doch nur eins. Es gibt den frommen Wunsch, der gottgefällig ist und deshalb den Wünschenden das Himmelreich näher bringt, und es gibt den frommen Wunsch, den man sich wünscht, weil es ein Traum ist, der aber eher dem Teilbereich der defizitären Realitätswahrnehmung zuzuordnen ist. Dass die Grenzen zwischen den doppeldeutigen Ausrichtungen fließen sind, dürfte klar sein. Wird zum Beispiel der fromme Wunsch nach Frieden geäußert, dann ist das sicher ein Wunschtraum, der kaum zu erfüllen ist und gleichzeitig dem lieben Gott erfreut.
Kommen wir also zum lieben Gott. Tja, was soll man über ihn sagen? Auch nach zigtausend Jahren ist er da. Er rennt nicht lautstark schreiend herum. Er trägt keine glitzernden Kleider. Aber er ist immer da, wenn er gebraucht wird. Gesetz dem Falle, dass ihn die Menschen auch wollen. Von Anbeginn der Welt an ist es so, dass ihn lange nicht alle wollen. Wobei das nicht richtig ist. Es will ihn jeder, nur mit dem Glauben tun sich viele schwer. Wie soll man auch an etwas glauben, was man nicht sehen und nicht hören kann? Gefühlen zu vertrauen – das kann schwer sein. Dem lieben Gott ist das recht gleichgültig. Er brennt gar nicht darauf, dass alle seine Kinder sich permanent an ihn wenden. Wozu auch? Die meisten Dinge im Leben regeln sich von ganz allein, wenn man sie nur lässt und vertraut. Der liebe Gott verwendet seine Zeit lieber darauf, sich auf seinem kleinen Planeten zu bewegen, um seine Schöpfung zu bewundern. Wenn das nur alle täten, denkt er oft.
Besonders gern ist er im Fichtelgebirge unterwegs. Er findet, mit der Natur vor Ort ist ihm die Schaffung eines kleinen Paradieses auf der Welt gelungen. Er mag auch den mürrischen Menschenschlag, und er ist stolz auf die Vielzahl von Bewohnern, die er mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausstatten konnte. Es gibt kaum ein Völkchen, das so fleißig und rege ist, aber gleichzeitig durch Bescheidenheit glänzt. Hilfsbereitschaft unter den Menschen wird groß geschrieben. Oftmals natürlich, weil jeder gerne glänzen mag, aber hier zählt das Ergebnis, findet der liebe Gott. Die große Zahl an Künstlern, die hier zwischen Moos, Granit, grünen Wäldern und zauberhaften Bächlein ihre Kreativität ausleben, ist überwältigend. Vom Hexenweiblein, das einen neuen Zaubertrank erfindet, zum Schriftsteller, der die Weltrettung längst im Schreibtisch liegen hat, über den Filmemacher, der die zauberhaften Welten des Fichtelgebirges in die Weiten des Universums tragen möchte hin zum Bild schaffenden Künstler, der die Schönheit um ihn herum festhält, ihre Grausamkeit abbildet, aber auch Platz für das Reich der Fantasie lässt. Nicht zu vergessen die Vielzahl an stimmgewaltigen Sängern und talentierten Musikern. Nordostoberfranken hat die Superstars. Doch hier geht man zum Bowlen und nicht zum Bohlen. Es gibt nichts Fantastisches, was im Fichtelgebirge nicht schon einmal gedacht worden wäre. Lösungen für zahlreiche Probleme dieser Welt entstehen hier quasi im Nebenher als Abfallprodukt größerer Ideen. Wäre die Bescheidenheit und die übergroße Leidenschaft des Kritisierens vor Ort nicht so stark ausgeprägt, hätte sicherlich schon ein großer Nordostoberfranke die Weltherrschaft übernommen, glaubt der liebe Gott manchmal. Wenn alle Menschen dieser Welt wie Nordostoberfranken wären, wäre die Welt ein wunderschöner Ort, denkt er oft. Der Umgang untereinander wäre zwar ziemlich rau und ruppig. Es würde gemotzt und gemeckert ohne Unterlass. Mit Komplimenten würde sicher nicht umher geworfen, aber die Welt wäre voller kreativer Ideen. Sie wäre friedlich, vernünftig und schön anzusehen. Kurz: Sie wäre ein wundervoller Platz zum Leben. So denkt der liebe Gott gern, wenn er auf diesem Stein bei Hendelhammer sitzt, von dem ich euch oben berichtet habe, und die herrliche Natur betrachtet, die er hier geschaffen hat.
So war es auch an einem Sonntag im August. Der liebe Gott saß wieder einmal auf seinem Stein und betrachtete die Landschaft um ihn herum. Natürlich kann er viel weiter sehen als jedes Menschenauge. Sorgenvoll dachte der liebe Gott über den Zustand der Welt nach. In letzter Zeit krachte und schepperte es an allen Ecken und Enden. Verzeihung, ich meine natürlich an allen Rundungen dieser Kugel. „Wenn das hier alles nicht so schön wäre“, dachte der liebe Gott, „dann wäre es am Besten, ich würde alles erst mal einstampfen. Ich mach alles platt und fange noch einmal von vorne an“, überlegte er. „Alternativ rotte ich die Menschheit aus und sorge für Ruhe auf dem blauen Planeten. Dann kann ich weiter sehen.“ Aber das wäre natürlich ein Eingeständnis des Scheiterns gewesen. Es wäre ein Versagen auf ganzer Linie. Es wäre der falsche Weg. Dafür wurde durch diese Welt und eben auch durch ihre Kreaturen schon zu viel Schönes geschaffen. „Ich muss einen anderen Weg finden“, grübelte er vor sich hin. „Ich brauche wieder mehr Weltverbesserer. Menschen, die anstoßen, die eine Bewegung starten, Hoffnung und Optimismus verbreiten.“ Einen Moment hielt er inne und überlegte. „Lieber Stein“, richtete er das Wort an seinen Stein der frommen Wünsche „ich wünsche mir, dass ich Zugang zu einem Menschen finde, der etwas bewegen kann. Ich wünsche mir einen Stein des Anstoßes. Jemanden, der die Massen an kreativen Köpfen, die hier im schönen Fichtelgebirge noch schlafend ruhen, wecken kann. Einen Krieger, der den Meckerern mal sagt, dass sie ihre Energien doch bitte für die Welt aufbringen möchten, um sie zu einem schöneren Planten zu machen.“ Was für ein frommer Wunsch in jeder Beziehung. Fromm, da göttlich gut und fromm, da zu gut, um wahr zu werden.
Während er so auf dem Stein saß, sah sein weit blickendes Auge, dass sich jemand auf den Weg gemacht hatte, um den Stein zu besuchen. Unser junger Mann, von dem ich oben berichtet habe, war im Anmarsch. Der liebe Gott sah ihn bereits, als er in Selb am Eisstadion direkt am Waldrand sein Auto parkte. Dann ging er los, den Planetenweg entlang in Richtung Hendelhammer. Gerade hatte er den Siebensternplatz hinter sich gelassen und marschierte grübelnd den Weg entlang. Noch zwei Kilometer bis zum Stein der frommen Wünsche. „Oh je“, dachte der liebe Gott zunächst, als er nur einen oberflächlichen Blick auf sein Schäfchen wagte. „Mein lieber Stein, das kann ja wohl nicht dein Ernst sein. Ich wünsche mir jemanden, der Hoffnung und Optimismus in die Welt tragen kann und du schickst mir dieses griesgrämige Exemplar vorbei. Bei dem mürrischen Gesicht nehme ich gleich Reißaus“, murmelte er und wollte sich schon entfernen, als ihm etwas auffiel: Es war die Herzenswärme, die ganz plötzlich zwischen den Bäumen sichtbar wurde. Der junge Mann versteckte sie gut, und so blickte der liebe Gott genauer hin. Vor ihm lag alles, was der junge Mann zu bieten hatte. Er sah die hohen Ansprüche, das kritische Bild, dem seine Umwelt standhalten musste, er sah die Härte, Streitsucht und die Kompromisslosigkeit. Aber er sah auch den Wunsch des jungen Mannes, mit seinem Leben etwas Besonderes zu leisten. Er sah die wahre Sehnsucht nach Frieden auf der Welt. Er sah die naiven Träume nach Gerechtigkeit, die tief verwurzelt waren. Er sah den Wunsch nach Kommunikation und Zusammenhalt. Er sah die Stärke, die ausreicht, um Dinge anzuschieben. Er sah die Fantasie, immer kreative Lösungen zu finden.
Der liebe Gott überlegte einen Moment. Warum sollte er es nicht einmal mit diesem jungen Mann versuchen? Vielleicht hatte er das Zeug dazu, mit seinem Leben die Welt ein wenig besser zu machen. Wenn das der Mensch war, den der Stein zu ihm schickte, würde es schon richtig sein. Die menschlichen Voraussetzungen waren denkbar gut, fand der liebe Gott. Dieser junge Mann hatte das Zeug dazu, ein Multiplikator zu werden, ein Weichensteller, ein Verbinder, ein Anstoßender, ein Großer. Mit seiner Ausstrahlung und Energie konnte er Schritt für Schritt andere dazu bringen, es ihm gleich zu tun. Er konnte eine Bewegung starten, die sich einmal angestoßen wellenförmig über die Welt verselbstständigen würde. So träumte der liebe Gott. Allerdings, das Meckern und Motzen, das musste er wohl ein wenig einstellen.
Wie war es anzustellen, diesen jungen Mann so zu verändern, dass er mit neuem Mut all die ihm gegebenen Fähigkeiten zum Wohle der Welt einsetzte? Der junge Mann wollte das. Das sah der liebe Gott am Grunde seiner Seele ganz deutlich. Was hinderte ihn bisher daran? Der liebe Gott sah, wie der Mann grübelnd Schritt für Schritt durch den Wald ging. Es ging darum, Korrekturen im Inneren des Mannes vorzunehmen. Das war klar. Aber welcher Natur waren diese Veränderungen? Im Moment nutzte der junge Mann seine Fähigkeiten in absurder umgekehrter Variante. Er verbreitete Missmut und Traurigkeit, indem er seine negative Sicht der Dinge vor sich her trug und jedem mitteilte, der seinen Weg kreuzte. Die Menschen nahmen lieber Reißaus, als dass sie ihm zuhörten. Warum sah er alles so kritisch? Der liebe Gott durchforschte die Vergangenheit des jungen Mannes. Er sah ihn, wie er als kleiner Junge mit seinem Vater den Weg entlang spazierte. Zum Höhepunkt des Ausflugs gehörte der Besuch dieses Steins, der Wünsche erfüllen konnte, wie ihm sein Vater erklärte. Er war daher immer ganz aufgeregt, als er auf den Stein kletterte und in den Kuhlen Platz nahm. Wie ihm sein Vater erklärt hatte, schloss er die Augen und konzentrierte sich auf seine Wünsche. Einmal handelte es sich um eine Auto-Rennbahn. Ein anderes Mal um ein ferngesteuertes Auto usw. Ja, mit frommen Wünschen hatte das immer recht wenig zu tun. Weder in dem einen Sinne noch in dem anderen. Aber vielleicht entschuldigt den jungen Mann, dass er ja noch recht jung war und von frommen Dingen wenig Ahnung hatte. Es ist auch wenig erstaunlich, dass seine Wünsche im Laufe der Zeit tatsächlich in Erfüllung gingen. Schließlich horchte ihn sein Vater im Anschluss aus, was es denn nun für ein Wunsch gewesen wäre.
An materiellen Dingen fehlte es unserem jungen Mann in seinem Leben nicht, stellte der liebe Gott fest. Kann es allein an dem Umfeld liegen, in das er hinein geboren wurde? So rätselte der liebe Gott. Gleicht es einer Sippenhaft, wenn man hier aufwächst und tagein, tagaus mit übergroßen Erwartungen an sich selbst und den Nachbarn konfrontiert wird? An einer anderen Ecke der Seele entdeckte der liebe Gott die große Unsicherheit, die unseren jungen Mann umtrieb. „Hier haben wir definitiv eine Ursache“, stellte der liebe Gott fest. Er wühlte in den Fetzen der Vergangenheit und fand: Dem jungen Mann fehlte jegliche Anerkennung im Leben. Seine Eltern, selbst vom kritischen Umfeld geprägt, geizten mit Lob und überschütteten mit Kritik. Und dabei hatte der junge Mann schon so viel Gutes geleistet. „Hm“, brummte der liebe Gott. „Ein typisches nordostoberfränkisches Problem. Nichts ist hier eben gut genug. Ein Kreislauf der sich beständig fortsetzt.“ Nur zu gut, kannte der liebe Gott das umgekehrte Phänomen. In anderen Teilen der Welt strotzten die Dummen nur so vor Selbstsicherheit und leisteten damit eher einen Beitrag dazu, die Welt ins Elend zu reißen. „Es ist eine große Ungerechtigkeit“, befand der liebe Gott. Doch hier war guter Rat teuer. Wie konnte er dem jungen Mann nun helfen, sich und seinen Stärken bewusst zu werden? Dem jungen Mann fehlte der Wert. Nichts in seinem Umfeld hatte einen Wert. So hatte er es gelernt und so spiegelte es seine Umwelt. Vielleicht liegt darin eine Möglichkeit, den Krieger zu wecken, überlegte der liebe Gott. Vielleicht könnte es gelingen, dem jungen Mann die Augen zu öffnen, und den Dingen um ihn herum einen Wert zu geben. Der liebe Gott fasste einen Plan: Er wollte es mit diesem jungen Mann versuchen. Er wollte ihm helfen, die Augen aufzumachen und das Schöne zu sehen. Wenn es mir bei dem einen gelingt, schafft er es vielleicht beim Nächsten, überlegte der liebe Gott. Wenn ich einem das Sehen beibringe, dann kann das Gute seine Wellen schlagen. Aus einem Krieger werden zwei und aus zwei werden vier.
Dem lieben Gott gefiel sein Plan. Vor seinem inneren Auge sah er die Bewegung schon vor sich, die er hier am Stein der frommen Wünsche starten würde. Täglich würden es mehr, die das Schöne sahen. Innerhalb kürzester Zeit wäre das Fichtelgebirge für alle das Paradies, das es auch war und prompt würde die Bewegung über das Fichtelgebirge hinaus schwappen. Freude und Optimismus würden sich auf der ganzen Welt ausbreiten. Die Welt würde überschüttet von Schriften, Büchern, Liedern, Bildern und Zaubertränken – alles neue Dinge, die die Künstler aus dem Fichtelgebirge nun in die Welt tragen würden. So gesehen plante der liebe Gott ein kleines Erdbeben, um die Welt und seine Bewohner aufzurütteln. Er saß auf seinem Stein und wünschte sich, dass sein Plan aufgehen würde. Als er den jungen Mann kommen sah, zog er sich zunächst zurück. Er wollte ihm Zeit geben, auf seinem Stein seinen Gedanken nachzugehen.
Der junge Mann ging mit schnellen Schritten in Richtung des Steines. Er lag seit seiner Kindheit auf seiner bevorzugten Spazierroute. Schon von weitem sah er den Stein, der allein am Wegesrand auf ihn zu warten schien. Wenn er heute zu diesem Stein ging, erinnerte sich unser junger Mann gerne an früher und dachte an die Zeit zurück, als er mit seinem Vater hier war. Der Vater war längst gestorben, doch irgendwie, auf eine unerklärliche Art und Weise, fühlte sich der junge Mann seinem Vater an diesem Stein besonders nah. Fast so, als ob er noch immer dabei wäre. Wenn er die Augen schloss, konnte er seine Anwesenheit fast spüren. Merkwürdigerweise stimmte ihn das nicht traurig, sondern eher froh und zuversichtlich. Er nahm diese Empfindungen einfach hin, ohne sie zu hinterfragen. Diese persönliche Empfindsamkeit, die der junge Mann aufgrund der Umstände rund um den frommen Stein mitbrachte, wollte sich der liebe Gott zu Nutze machen. Sie war der Garant für die spirituelle Offenheit, die für sein Vorhaben nötig war.
Auch ohne seinen Vater hatte der junge Mann den Brauch des Wünschens am frommen Stein fortgesetzt. Allerdings nahmen seine Wünsche inzwischen Dimensionen an, die eher nach einer guten Fee verlangt hätten. Ein Wunsch zog einen nächsten Wunsch nach sich und so wäre es ihm am liebsten gewesen, er hätte den einen Wunsch frei gehabt, es mögen künftig alle Wünsche in Erfüllung gehen. Die Wünsche bewegten sich folglich meist tatsächlich im Reich der Wunschträume, deren Realisierung sehr viel Ausdauer, vor allem aber Glück erfordert hätte. Er war beim Wünschen niemals raffgierig und auf seinen Vorteil bedacht. Wenn er sich Geld, Gold und Diamanten wünschte, dann nicht um reich zu sein und sich ein neues Auto zu kaufen, ein Haus zu bauen oder eine schöne Frau zu beschenken. Er wünschte sich Geld, um damit die Welt zu bereichern. Mit seinen Projekten würde er mehr Bildung in die Welt tragen, er würde Kindern helfen, er würde Generationen verbinden, dachte er. Immer wieder kamen ihm, wie er fand, grandiose Ideen. Er füllte auch fleißig regelmäßig jede Woche einen Lottoschein aus. Aber ihm war klar, dass übermäßiger Reichtum immer die Gefahr in sich barg, die eigentlichen Ziele aus den Augen zu verlieren und sich dem schönen Leben hinzugeben. Darin sah er den Grund, warum er vom Schicksal, dem lieben Gott oder was auch immer ihn anleitete, noch nicht mit Reichtum gesegnet worden war. Denn: Dass ihn etwas leitete, darüber bestand kein Zweifel. Er beschränkte sich inzwischen beim Wünschen darauf, dass ihm endlich Dinge einfallen würden, durch die er seinen Zielen auch ohne Geld näher kam.
Leider hatte sich seit den Kindheitstagen hier am Wunschstein etwas Zentrales verändert: Seine Wünsche gingen nicht mehr in Erfüllung. Aber er wurde nicht müde, darüber nachzudenken, was es sein könnte, was er Großes leisten konnte. Es verfolgte ihn regelmäßig bis zum Stein. Wenn er allein auf dem Weg dorthin unterwegs war, dann hatte er Zeit und Ruhe darüber nachzudenken. Eins war ihm klar: Er war etwas Besonderes und er wollte Besonderes leisten. Nur wollten sich ihm die Wege nicht eröffnen. So empfand er es. Das Scheitern war sein regelmäßiger Begleiter. Gut, dass er als Nordostoberfranke das Aufstehen gewöhnt war. Man konnte fallen, fand er. Es war auch nicht schlimm, wenn es öfters passierte. Wichtig war nur, dass man wieder aufstand. All das erkannte der liebe Gott nach und nach und freute sich über die gute Gelegenheit, die sich hier bot. Der junge Mann war ein Krieger, der nicht kämpfte. Er war ein Besonderer, der nichts Besonderes tat. Ein wenig war es so, als ob er an Höhenangst leiden würde. Er sah den Weg vor sich, aber er ging ihn nicht, da er über eine Schlucht führte. Die Brücke erschien ihm zu wacklig und deshalb fürchtete er sich. Stattdessen stand er am Abgrund und bedauerte, dass es die Schlucht gab und die Brücke nicht stabil genug war. Moment, genau! Die Brücke war ja stabil genug, aber er glaubte es nicht und fürchtete sich. Jammerschade war das, fand der liebe Gott. Denn jammerschade ist es um jeden, der seine Berufungen nicht lebt. Dieser junge Mann war in jedem Fall genau der Richtige für seinen Plan.
Als der junge Mann den Stein erreichte, war er wie üblich allein. Weit und breit war niemand zu sehen. Er setzte sich in die Kuhle, betrachtete eine Weile die Umgebung und schloss dann immer wieder die Augen, um nachzudenken. Der liebe Gott ging derweil pfeifend mit Spazierstock den Weg entlang und überlegte, ob er ein Lied anstimmen sollte. Schon von der Ferne sah er den jungen Mann auf dem Stein sitzen und grübeln. Der liebe Gott schmunzelte. Na warte mal ab, murmelte er. Der heutige Tag hält noch einiges für dich bereit. Schritt für Schritt näherte er sich dem jungen Mann, der gerade starr in die Ferne blickte und den Wanderer gar nicht zu bemerken schien. Erst als er schon fast auf der Höhe des Steins war, blickte der Mann in seine Richtung und sah ihn. Gott zum Gruße, sagte Gott und zog seinen Hut. Geistesabwesend nickte der junge Mann. Sein Blick war nach innen auf sein gedankliches Schlachtfeld gerichtet, in dem er Angreifer und Opfer zugleich war. Doch dann zuckte er zusammen und nahm den merkwürdigen Wanderer, der neben ihm stehen geblieben war, zur Kenntnis. „Sie sehen ja aus wie Gustl Bayrhammer“, entfuhr es ihm. Der liebe Gott schmunzelte. Die Rechnung war aufgegangen. „Vielleicht bin ich es ja“, antwortete er und grinste breit. Nun kam es auf jedes Wort an, um mit dem jungen Mann ins Gespräch zu kommen. „Sie sind nicht der Erste, der mir das ansieht“, entgegnete er. „Ihre Stimme kommt mir auch bekannt vor“, sagte der junge Mann und betrachtete den Wanderer irritiert von oben bis unten. „Also wenn ich nicht sicher wüsste, dass Gustl Bayrhammer schon tot ist, dann würde ich Stein und Bein schwören, dass Sie das sind.“ „Rutschens mal“, sagte der angebliche Gustl und der junge Mann machte ihm Platz. Der liebe Gott grinste in sich hinein und freute sich, dass seine Strategie aufgegangen war. Er hatte einen Zugang zu dem jungen Mann gefunden. Er erschien ihm nicht wie ein Fremder, sondern wie ein Vertrauter aus alten Zeiten. Wie gut, dass die Menschen den Fernseher erfunden hatten.
„Schön hier“, begann der liebe Gott das Gespräch. „Ich komme immer hier vorbei, wenn ich in der Region bin.“ Der junge Mann sah den Wanderer interessiert an und fragte: „Sie machen hier Urlaub?“ Gott nickte, aber es wirkte unentschlossen. „Urlaub trifft es nicht ganz“, fuhr er fort und der junge Mann fiel ihm ins Wort: „Ach, dann sind Sie beruflich hier?“ Wieder nickte der Wander zögerlich, aber meinte dann: „Das trifft es auch nicht ganz.“ Er überlegte einen Moment, dann sagte er: „Es ist so eine Art Berufungsreise.“ Der junge Mann sah den lieben Gott ratlos an. „Berufungsreise?“ fragte er. „Ich habe hin und wieder die Aufgabe, Menschen ihren Bestimmungen näher zu bringen“, antwortete der liebe Gott. Mit dieser Antwort konnte der junge Mann auch nicht wirklich etwas anfangen, aber er wollte nicht zu neugierig sein und noch einmal nachfragen. Daher schwieg er. „Sie sind von hier?“ fragte indessen der liebe Gott. „Ja, ich wohne schon immer hier.“ Der junge Mann nickte. „Dann wohnen Sie im Paradies“, sagte der liebe Gott.
Der junge Mann war wieder ratlos. Was sollte er dazu nun sagen? Klar, es gab nette Ecken im Fichtelgebirge, aber als Paradies hätte er es nun nicht bezeichnet. Der Wanderer wartete ohnehin keine Antwort ab, sondern fuhr schwärmend fort: „Ich bin ein großer Fan dieser Region. Die Natur ist einzigartig. Grüne Wälder und Wiesen, bunte Felder, alles durchzogen von Granit-Gestein, von Felsen, große Seen und kleine Flüsschen, Bachläufe und Wasserfälle, Burgen und Labyrinthe und nicht zu vergessen: Steinbrüche. Einfach alles ist wunderschön. Wir sind hier in der Mitte Europas und damit im Zentrum der Welt. Es ist einer der schönste Orte, den dieser Planet zu bieten hat. Hawai, Neuseeland, Australien und die Malediven – das kann man alles vergessen. In Schottland regnet es zu oft und in Timbuktu sprechen sie Songhai. Das versteht kein Mensch. Da ist das Fichtelgebirge einfach schön. Schön in einer ganz ruhigen Art und Weise. Es ist sehr grün, bewachsen von Nadel- und Laubbäumen, felsig von grauem Gestein, gelb von blühenden Feldern und glitzernd in der Nacht, weil jeder einzelne Stern deutlich zu erkennen ist. Natürlich gibt es keine Strände und Palmen. Aber eben auch keine Tsunamis, keine Quallen und keine Affen, die Kokosnüsse von den Bäumen schmeißen. Im Fichtelgebirge werden höchstens Kuseln geworfen, aber die tun nicht ganz so weh wie Kokosnüsse. Letztere kann man übrigens im Supermarkt trotzdem kaufen, wenn man unbedingt mit ihnen werfen will. Gerüchten zufolge machen das hin und wieder irgendwelche jungen Wilden, denen Kuseln nicht mehr ausreichen. Es gibt hier zwar kein Meer. Dafür aber zauberhafte kleine Bächlein, die Eger als reißenden Strom und sanften Fluss sowie unzählige Seen. Alles überschaubar und nicht zu groß. In den Gewässern schwimmen Forellen und Goldfische, die niemals beißen. Keine Spur von Haien, was die Badenden unglaublich beruhigt. Wem das zu fad ist, dem sei ans Herz gelegt, dass in einigen Seen schon Ungeheuer gesehen wurden. Auch von Schnappschildkröten war schon die Rede, außerdem von Einhörnern, Hexen, Wichteln, Zwergen und Burggeistern. Ach, ich könnte schwärmen“, beendete der Wanderer seinen Vortrag. Der junge Mann nickte zögerlich und blickte den Wanderer ein wenig irritiert an. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ fragte der liebe Gott. Der junge Mann schüttelte den Kopf. Es kam selten vor, dass er in geballter Form die Vorzüge seiner Heimat aufgezählt bekam. Bevor er etwas entgegnen konnte, sagte der liebe Gott: „Sie haben wirklich Glück, dass Sie in solch einem Paradies leben können.“ Der junge Mann wusste nach wie vor keine Antwort. Eigentlich hatte der Fremde mit allem recht, was er sagte. Trotzdem erschien es ihm ein wenig übertrieben so zu schwärmen. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass es eigentlich seine Aufgabe wäre, gegenüber einem Fremden so über den Ort, an dem er leben durfte, zu sprechen. Es war wirklich wunderschön hier und gab gute Gründe, warum er hier herumspazierte und es ihn nicht in die Ferne zog, gestand er sich ein.
„Wenn man hier lebt, sieht man gar nicht mehr so genau hin“, meinte er schließlich zu dem Wanderer und fand, dass er damit gut erklärt hatte, warum der Fremde ihm so viel mehr Schönes über seine Heimat erzählen konnte, als er selbst gesagt hätte. Der Wanderer entgegnete: „Das verstehe ich gut. Aber ich finde, man sollte sich immer wieder selbst ermahnen, richtig hinzusehen.“ Der junge Mann nickte langsam. „Wissen Sie, ich denke, es ist wichtig, dass man das Schöne immer sieht. Unschöne Ecken gibt es überall. Man hat es selber in der Hand, ob man seinen Blick dort ruhen lässt, oder eben auf die Suche nach den bezaubernden Dingen geht.“ Der liebe Gott öffnete seinen Rucksack und holte ein in Alufolie gewickeltes Päckchen heraus. Er spürte förmlich, wie es in dem jungen Mann ratterte. Langsam faltete der liebe Gott sein Päckchen auf. Zum Vorschein kamen Würste. „Wollen Sie?“ fragte er und hielt dem jungen Mann das Päckchen hin. Zögerlich nahm er eine Wurst und biss hinein. „Fantastisch, nicht wahr?“ Der liebe Gott ließ es sich schmecken. „Es gibt nirgends eine bessere Wurst als hier im Fichtelgebirge. Ich bin weit herum gekommen. Es schmeckt wirklich nirgendwo so gut wie hier. Ich beneide sie, dass sie immer so gut essen können. Es gibt Gerüchte, dass Nahrungsmittel aus dem Fichtelgebirge bis nach Dubai oder ins Weiße Haus nach Washington geliefert werden. Ich habe keine Ahnung, was da dran ist. Sicher ist jedoch: Fleisch, Wurst und Klöße müssen aus dem Fichtelgebirge sein, wenn ein Gourmet-Gaumen befriedigt werden will. Es gibt dort fantastische Lebkuchen, Pralinen, Bierquellen und Sauerkraut. Auch der Schnaps sollte nicht vergessen werden. Mein absoluter Favorit: Die Bratwurst! Dieses Kunstwerk ist nicht wie andernorts ein Mini-Wursterl im Wecken. Nein, die Fichtelgebirgsbratwurst kommt lang daher und schaut mit beiden Enden aus dem Loiberl heraus. Der Duft einer Bratwurst vernebelt jedem die Sinne. Es soll schon Menschen gegeben haben, die beim Geruch der Fichtelgebirgs-Bratwurst high geworden sind. Das erklärt bestimmt, warum auch John Lennon schon im Fichtelgebirge gesehen wurde“, scherzte der liebe Gott und er fuhr fort: „Ortsnamen wie Oberkotzau, Unterkotzau und Gefrees sollen übrigens nur ein wenig erheitern. Sie sind Ausdruck des speziellen Humors, der in dieser Gegend vorherrscht. Eine der besten Bratwürste gibt es in der Metzgerei Schimmel. Ja, so ist das. Sowas trauen die sich in der Mitte Europas. Na und seinen Durst, den löscht man mit Getränken aus der Hölle. Das ist ja wohl klar.“
Der liebe Gott hatte sich in Rage geredet. Dem jungen Mann stand der Mund ein wenig offen. Natürlich hatte der Wanderer recht. Das hatte er längst aus dem Blick verloren. Vielleicht hatte er es sich sogar noch nie wirklich vor Augen geführt. Dachte er an seine Heimat, an sein nächstes Umfeld, dann sah er in der Regel die Dinge, die nicht so gut waren. An erster Stelle kam hier das Wetter, das im Fichtelgebirge den Ruf hatte, die meiste Zeit schlecht zu sein. Angeblich soll es kühler sein als im Rest der Welt. Jawohl! Als im Rest der WELT! Zumindest, wenn man den ewigen Meckerern glaubt, die es hier zuhauf gibt. Der junge Mann meinte daher: „Aber finden Sie nicht, dass das Wetter hier zu wünschen übrig lässt?“ „Ach geh“, antwortete der liebe Gott. Innerlich schüttelte er den Kopf über den jungen Mann. Jeder Oberbayer wäre auf den Zug der Lobeshymne aufgesprungen. Er hätte erhöht, was das Zeug hält ohne Sinn und Verstand. Aber er hier dämpfte. Der liebe Gott fuhr fort: „Ich weiß, hier wird viel über das Wetter gemeckert. Entgegen aller Gerüchte ist das Wetter aber genial“, betonte er. Der junge Mann lauschte ihm belustigt. „Es gibt heiße Tage, die unerträglich scheinen, aber meistens ist es einfach ein bisschen kühler als andernorts. Angenehm. Wenn einem kalt ist, dann zieht man halt „a weng a Jäggle“ an, wie man hier für „Jacke anziehen“ sagt. Man macht es wie die Zwiebel. Sage das mal einem der Schweiß triefend am australischen Strand sitzt. Nach Zwiebeln ist dem definitiv nicht zumute. Richtig: Der Gute kann nichts tun außer schwitzen. Im Fichtelgebirge zieht man sich an den wenigen zu heißen Tagen in den Schatten zurück, den es hier überall kostenlos gibt. Ansonsten zwiebelt man und hat daher überhaupt kein Problem mehr mit dem Wetter.“ Nun lachte der junge Mann. Es fühlt sich sehr gut an, so viele schöne Dinge über den Ort zu hören, an dem man lebte. Er konnte und wollte nicht anders, als dem Wanderer recht geben. Es breitete sich sogar ein Gefühl von Stolz aus, in dieser wunderschönen Region leben zu können. „Ich freue mich, dass Sie es sehen wie ich. Sie verstehen, warum ich immer wieder herkomme“, sagte der liebe Gott. Wohlwissend, dass dem eigentlich nicht so war und der junge Mann gerade erst anfing, seine Heimat mit neuen Augen zu sehen. Der junge Mann nickte. Er genoss das Gespräch mit dem Wanderer.
„Ich schließe mich viel zu oft denen an, die nur das Negative sehen“, dachte er für sich. Der liebe Gott führte seinen Vortrag fort: „Vor allem gibt es tolle Leute hier. Ich bin voller Bewunderung über den Ideenreichtum der Menschen. Haben sie schon davon gehört, dass es nun Pioniere gibt, die Seilbahnen über das Fichtelgebirge bauen wollen? Die längste Seilbahn der Welt soll hier entstehen.“ Der junge Mann nickte. Natürlich hatte er davon gehört. Inzwischen gab es schon mehrere Ecken, die sich für ein solches Seilbahn-Projekt stark machten. Wenn all diese Seilbahnen Wirklichkeit wurden, dann würde über ihren Köpfen am Himmel des Fichtelgebirges bald ein ganz schöner Trubel herrschen. „Es wollte ja auch schon mal jemand Stonehenge nachbauen, habe ich gelesen. Na und die sieben Weltwunder. Die waren auch schon im Gespräch“, fuhr der liebe Gott fort. „und dann wollte jemand aus dem Fichtelgebirge einen großen Seniorenwohnpark machen. Weil man hier auch im Alter gut und billig leben kann“, zählte der liebe Gott auf. „Aktuell scheint sich aber eher das Mittelalter breit zu machen. Ich war noch nicht dort, aber es gibt wohl ein tolles Festival, das weitläufig bekannt ist. Ich weiß allerdings nicht, ob es dort auch einen Seniorennachmittag gibt“, scherzte der liebe Gott. Der junge Mann nickte schon die ganze Zeit. „Am meisten begeistern mich aber die vielen Künstler“, fuhr der liebe Gott fort. „Wer hier etwas auf sich hält, der schreibt, malt, singt, spielt ein Instrument, fotografiert, tanzt oder erfreut seine Mitmenschen anderweitig. Sind Sie auch Künstler?“ fragte er den jungen Mann. Dieser schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe kein besonders Talent“, antwortete er. „Sind Sie sicher?“ hakte der liebe Gott nach. Der junge Mann überlegte. Dann meinte er schüchtern: „Ich organisiere gerne. Meinen Sie, das zählt?“ Der liebe Gott legte ihm die Hand auf den Arm. „Und wie das zählt“, sagte er. „Es ist sogar außerordentlich wichtig. Was würden Künstler ohne ihren Organisator tun? Sie sind quasi das Management.“
Niemals zuvor war dem jungen Mann so deutlich bewusst, wie unterschiedlich man Dinge sehen und bewerten konnte. Das Kontrastprogramm konnte größer nicht sein, verglichen mit dem, was er normalerweise über seine Heimat und die Menschen zu hören bekam. Dieser Fremde mit seiner geballten Schwärmerei für all die Dinge, die er liebte, setzte Energien in ihm frei. In dem jungen Mann rumorte es.
Der liebe Gott schwieg, aß seine Wurst und ließ den jungen Mann denken. Ganz offensichtlich fruchteten seine positiven Worte. Aufbruchsstimmung machte sich breit. Einen Moment lang ärgerte sich der junge Mann, dass er viel zu oft im Chor mit denen sang, die immer ein Haar in der Suppe fanden. Warum tat er das? Er fand keine Antwort. Vieles war wohl Gewohnheit. Oft war es auch, weil er es nicht wagte, sich vor den Chor zu stellen, gestand er sich ein. Doch was hatte er zu verlieren? Nichts. Das war ihm klar. Er würde seine Unsicherheit abschütteln und seinen eigenen Weg gehen, beschloss er. Vor dem Chor stehend, würde er ihm ein neues Lied beibringen.
Nach einer Weile meinte der liebe Gott: „Wir sind am Stein der frommen Wünsche. Wünschen wir uns doch, dass dieses Paradies so erhalten bleiben möge.“ Der junge Mann nickte und lächelte. Still für sich fügte er den Wunsch hinzu, er möge es selbst künftig immer so sehen. Er konnte ja nicht wissen, dass auch der liebe Gott bei diesem Wunsch das neue Paradies im Inneren des jungen Mannes gemeint hatte. Zweifellos waren das alles fromme Wünsche im doppelten Sinne. Fromm, da Gott gefällig, aber eben auch fromm, weil im Fluss der Zeit eine solche Haltung wohl kaum von Dauer sein konnte und Wunschträume waren. Doch keine Frage: Es war eine Chance. Der liebe Gott lächelte erfreut, denn er spürte, dass bei dem jungen Mann etwas angekommen war. Kein Vergleich zu dem grübelnden Mann von vorhin, der so verhärmt aussah, als er in schnellen Schritten den Weg entlang ging. Jetzt strahlte der junge Mann Optimismus aus. Es war wie ein Schalter der umgelegt wurde und zu einer komplett anderen Ausstrahlung führte. Zu Recht heißt es: Du bist, was du denkst. Nichts bleibt ohne Folgen.
Der Weg führte zurück über den Siebensternplatz, immer im Schutz des Waldes. Auf dem Planetenweg hatte der junge Mann neue Ideen, die er umsetzen wollte. Strahlend und souverän wie ein erfolgreicher Manager trat er aus dem Wald heraus und begann mit der Arbeit. Ob es gelingen würde, wusste der liebe Gott nicht, aber er hatte für eine neue Chance gesorgt. Der junge Mann konnte der Krieger sein, der er sein sollte, denn die Basis, auf der er stand, stimmte. Mit dieser Haltung konnte er die Welt verbessern. Denn das Schöne sehend und verbreitend würde er zum Weltverbesserer. Der liebe Gott hatte bei dem jungen Mann für Inspiration gesorgt. Er hoffte, er würde nun losziehen und mit seinem schönen Blick auf die Dinge andere anstecken. Bald würden alle im Fichtelgebirge infiziert sein und der Geist des Schönen würde die Welt erobern, träumte der liebe Gott. Wer wäre geeigneter als der Nordostoberfranke, der mit so vielen Talenten und kreativen Ideen ausgestattet worden war? Natürlich niemand. So bleibt es abzuwarten, ob bald das Fichtelgebirge einen neuen paradiesischen Geist in die Welt tragen wird. Ich muss zugeben: Vielleicht ist das auch nur ein frommer Wunsch.